Hallo,
ich bin Jessie. Wie du dir sicher schon dachtest, bin ich begeistert von Pferden. Das war zwar schon immer so, verschwand aber als Thema zwischenzeitlich für 10 Jahre aus meinem Leben. In diesen 10 Jahren habe ich diverse Haken geschlagen. Eigentlich sah es in diesem Lebensabschnitt die meiste Zeit aus als sei mein Leben eine einzige Katastrophe. Dass ich je wieder mit Pferden arbeiten würde, hatte ich eigentlich aufgegeben. Viele Menschen werden jetzt sicher nicken, wenn ich sage: So einfach geht das nicht. Wer einmal pferdifiziert ist, bleibt pferdifiziert. Das kann man versuchen zu verdrängen. Für immer klappt das nicht.

So auch bei mir. Während ich ein Jahrzehnt lang versucht hatte, mit mir und der Welt zurechtzukommen (vergeblich wie ich fand), stolperte ich über diverse Möglichkeiten, die genau das versprachen. Das große Glück. Die große Motivation. Absolute Zufriedenheit. So richtig funktionieren wollte bei mir nichts. Depressionen bestimmten mein Leben. Tabletten, Therapien, Arztbesuche. Das volle Programm. Bis mich jemand mit viel Enthusiasmus in die Ausbildung zum Entspannungstrainer schickte. Mit katathymem Bilderleben würde dort gearbeitet und das sei ja so toll. Und das Autogene Training! Und Meditation! Tatsächlich dachte ich ein wenig, die Dame sei etwas von der Rolle. Allerdings hatte ich gerade herzlich wenig an Lebensfreude zu verlieren, also ließ ich mich darauf ein.
Das war wohl mein erster Durchbruch, all das sollte mein Leben völlig auf den Kopf stellen. So sehr, dass ich mich direkt nach dem verhassten Studium als Entspannungstrainerin und Wellnessmasseurin selbstständig machte. Mit einigen groben Fehlern, die mir finanziell das Genick brechen sollten. Dennoch, gelernt ist gelernt: Ich wusste endlich, wohin ich gehöre. Völlig stimmig und komplett fühlte es sich aber noch nicht an. Vor lauter Frust hörte ich auf, das Gelernte umzusetzen – und fiel wieder in ein Loch. In ein riesiges. Plagte mich mit Selbstzweifeln, konnte nicht mehr schlafen und verbrachte meine Zeit mit Frustessen und damit, mich fertig zu machen. Bis mich zwei Schicksalsfügungen wieder auf meinen Weg schubsen sollten:
Zum einen kam ich ins Gespräch mit Esther Paulus, die ich zwar noch von früher kannte, aber seit Jahren nicht mehr näher gesprochen hatte. Ich wusste, dass sie sich aus dem Nichts quasi allein einen eigenen Pferdebetrieb aufgebaut hatte. Ich wusste nicht, dass sie sich inzwischen nicht nur zum Pferdeprofi, sondern auch zum Pferdeflüsterer (übrigens ebenfalls über Entspannungstraining auf diesen Pfad gestoßen!) gemausert hatte. Sie lud mich ein, die Pferde wieder öfter zu besuchen.

Es war wie ein Aussöhnen mit meiner Vergangenheit. Mir war nie klar gewesen wie enorm das Thema auf mir gelastet hatte. Wie enorm ich mich selbst verleugnet hatte. Die ersten Tage im Stall waren für mich ein emotionaler Cocktail aus Fremdeln und überschwemmt werden von vergangenen Gefühlen. Vertrautheit. Ein Blick in alte Kompetenzen. Es dauerte Monate, bis ich mich akklimatisiert hatte. Während meiner Depression waren die Besuche im Stall das Einzige, das mich – im wahrsten Sinne – am Laufen hielt. War ich nicht im Stall, saß ich depressiv zu Hause, nahm weiter zu und verzweifelte an mir selbst. Trotz Therapie und medikamentöser Unterstützung war ich machtlos. Einzig das Pendeln zu den Pferden zwei mal die Woche und die schier endlose Geduld und Unterstützung meines Partners holten mich aus dem Bett. Während ich mich von meinem eigenen Umfeld zunehmend isolierte, nahm mich das Reiterhoftrüppchen offenen Herzens auf. Die Fragen, wann ich denn nun wieder anfinge zu reiten, häuften sich.

Eine Antwort hatte ich nicht. Ich hatte unsagbare Angst, wieder aufs Pferd zu steigen. Mit zwei halbherzigen Ausnahmen war ich seit Jahren nicht mehr geritten. Die große Begründung – den traumatischen Reitunfall oder dergleichen – gab es einfach nicht. Ich konnte nicht sagen, woher meine Angst kam, denn ich wusste es nicht genau. Gedrängt wurde ich glücklicherweise von niemandem.
Nach etwa vier Monaten bekam ich eine Diagnose, die mich ein großes Stück zurückwerfen sollte. Eine Operation stand an. Nichts Dramatisches, nichts Gefährliches. Für mich jedoch von größter Bedeutung. Ich würde für Wochen oder Monate an meine nähere Umgebung gebunden sein, vorerst schlecht laufen können. Etwa 5 Wochen kein Stallbesuch.

Horrorvisionen von zurückkehrenden Depressionsgefühlen suchten mich heim. Schritt für Schritt hatte ich versucht, mich aus diesem grauen Loch zu kämpfen. Meine Stimmung war im Keller, zumal gegen Ende meiner Genesungszeit mein 30. Geburtstag anstehen sollte. Nichts mit der großen Phönix-aus-der-Asche-Nummer davor. Ab ins Schneckenhaus stattdessen. Einen Entschluss fasste ich spontan im Stall. Ich beobachtete eine Reiterin und kam ins Grübeln. Sie sah es mir sofort an: „Du überlegst aufs Pferd zu steigen!“
Genau das tat ich. Mit Angst im Bauch. Aber ich brauchte es so dringend für mich. Ich hatte das Gefühl, ich musste das vor der OP wenigstens ein Mal machen, um nicht völlig den Mut zu verlieren oder im Kampf gegen mich selbst wieder ganz von vorn anfangen zu müssen. Die Kommunikation mit meinem „Testpferd“ – Tiziano – verlief besser als gedacht, meine Anspannung ließ nach. Bis zur ersten Galopprunde. Nach den ersten drei Galoppsprüngen platzte der Knoten. Spürbar und mit einem Schlag. 10 Jahre Angst waren einfach losgelassen. Ich entdeckte meinen Ehrgeiz wieder (völlig überrascht, dass ich solche Gefühle noch hatte!). Korrigierte Kommunikationsprobleme aus, erinnerte mich an das ein oder andere – und war dennoch entsetzt darüber, wie viel ich bereits vergessen hatte.

Noch etwas Bahnbrechendes tat sich während dieser Reitstunde in mir: mein Übergewicht störte mich. Nicht etwa, weil ich mich so dick und hässlich und unansehnlich auf diesem eleganten Geschöpf fand (na gut, das auch ein bisschen). Sondern weil es mir im Weg war. Es fühlte sich falsch an. Nicht falsch im Sinne von „Ich sollte nicht so viel wiegen“, sondern falsch im Sinne von „Dieser Panzer gehört gar nicht zu mir“. Unter dieser Speckschicht gab es etwas Lebendiges, etwas, das mehr das Leben spüren wollte. Mich!
Diese Reitstunde war das Beste, das mir vor der OP „passieren“ konnte. Ich hatte keine Angst mehr vor diesem großen emotionalen Loch. Jetzt war ich voller Freude, denn da war etwas, auf das ich mich freuen konnte. Ein Grund, die Heilung voranzutreiben. Wie es das Schicksal so will, ergab sich während der Zeit meiner Genesung die Gelegenheit, Tiziano als Pflegepferd zu übernehmen.
Was ich prompt tat. Eine wunderbare Chance, die Reise gemeinsam anzutreten. Zurück ins Leben. Zurück zu einem gesünderen Körper. Zurück in die Welt der Pferde. Dieses Mal allerdings leiser, empfindsamer, mit mehr Blick und Gehör für die Perspektive meines vierbeinigen Gegenübers.
